Im Lauf des 19. Jahrhunderts formieren sich innerhalb der entstehenden Kriminalliteratur neue anthropologische Muster der Verbrechensdeutung, die u.a. auf medizinische und zunehmend psychologische Wissensbestände und Diskurse zurückgreifen und eine neben juristischen und moralisierenden zusätzliche „pathologisierende“ Unterscheidungssemantiken etablieren, um mit und über dem fokussierten Verbrechen vielfältige ‚Störungen‘ gesellschaftlicher Ordnung in ihrer Komplexität und in ihrem Zusammenspiel zu beschreiben. Damit bilden sich zugleich auch neue narrative Verfahren heraus, die die Fallgeschichte Pitaval’scher Tradition um moderne detektorische Modi anreichern und die, parallel zur Entstehung der modernen Semiotik, ‚Spuren‘ gestörter Ordnungen lesbar machen.
Als Exposition und Movens dieser neuen narrativen Verfahren fungieren breit ausdifferenzierte semantische Störungen der diegetischen Welt, z.B. aufgrund kriminalanthropologischer, pathologischer Befunde, materieller Delikte oder systemischer Dysfunktionen; auch Störungen einer scheinbaren Ordnung durch Offenlegung und Subversion gesellschaftlicher Missstände rücken in den Blick.
Ziel des Symposiums ist es, (a) die Konzepte ‚Spur‘ und ‚Störung‘ als zentrale semiotische Variablen in neuen kriminalliterarischen Texten des 19. Jahrhunderts sichtbar zu machen und zu analysieren und (b) die Relation bzw. Funktionalisierung zwischen diesen detektorischen ‚Befunden‘ und den jeweiligen diegetischen Strukturen, narrativen Verfahren, literaturhistorischen Traditionen und Genredifferenzierungen (u.a. Fallgeschichte, Verbrechensgeschichte, Kriminalgeschichte usw.) zu untersuchen.
>Zoom-Stream<
Donnerstag, 23.06.22
13.00 |
Stephan Brössel/Johannes Ueberfeldt (Münster): |
Moderation: Stephan Brössel | |
13.30–14.15 | Antonia Eder (Karlsruhe): Ein „verteufelter Criminalprozeß“. Kooperative und konkurrenzielle Produktionsbedingungen: „Der Roman des Freiherrn von Vieren“ |
14.15–15.00 | Thomas Weitin (Darmstadt): Erkenntnismöglichkeiten an einem mittelgroßen Law and Literature-Korpus: „Der Neue Pitaval“ (1842–1890) |
Kaffeepause | |
Moderation: Johannes Ueberfeldt | |
15.30–16.15 | Erik Schilling (München): Zeichendeuten. Interpretationsprozesse in Jodokus Temmes „Der Studentenmord in Zürich“ und die Methodik der Beweisaufnahme in Temmes juristischen Schriften |
16.15–17.00 | Patrick Hohlweck (Berlin): Interferenz und Identität in Adolf Streckfuß’ „Der Sternkrug“ (1870) |
Freitag, 24.06.22
Moderation: Stephan Brössel | |
9.30–10.15 |
Lukas Müller (Marburg): „Der Beamte Korn war in jeder Beziehung Geschäftsmann.“ Spuren gestörter Polizei in Julius Stindes „In eiserner Faust“ |
Kaffeepause | |
10.30–11.15 | Till Breyer (Bochum): Fontanes Störung des Strafrechts in „Quitt“ |
Moderation: Johannes Ueberfeldt | |
11.15–12.00 | Gideon Stiening (Münster): Naturrecht und Anthropologie in Wilhelm Raabes „Stopfkuchen“ |
Mittagspause | |
13.00–13.45 | Susanne Düwell (Köln): „Der Andere“. Kontroversen über die Darstellung von Ich-Verdopplung und verbrecherischer Suggestion |
13.45–14.15 | Schlussdiskussion und Verabschiedung |